Sonntagmorgen in San Miguel de Allende. Es ist Regenzeit, und geregnet hat es in den letzten Tagen mehr als genug. Die steilen Straßen hatten sich in wahre Wasserfälle verwandelt. Die Fluten haben den Staub der kargen Hochwüste von den Pflastersteinen gespült und die frische Morgenluft ist saubergewaschen.
Der Mexiko so eigene, metallische Klang der Kirchenglocken weckt die Stadt aus ihrem kurzen, tiefen Schlaf. Es war mal wieder eine lange Samstagnacht gewesen. Mit Mariachi, ausgelassenem Tanz, Tequila und ganz viel Unbekümmertheit.
Ein Kaffee für Nachtschwärmer
Im Café stehen die ersten Nachtschwärmer an, um der bleiernen Bettschwere mit Kaffee und Croissant entgegenzuwirken. Auch die Damen hinter der Theke sind noch nicht wieder richtig wach, und so dauert jede Bestellung ihre Zeit. Aber die hat hier jeder an diesem Sonntagmorgen.
Ein kleiner Junge kommt herein. 4 Jahre alt mag er sein. Er trägt eine verschlissene Jeans, ein viel zu großes Spiderman Sweatshirt mit Kapuze, und seine drahtig glatten Haare stehen in alle Richtungen. In den Händen hält er kunstvoll geschnitzte Eselchen, die es gilt an die Wartenden zu verkaufen.
Niemand beachtet ihn, außer vielleicht der größere Junge, ganz offensichtlich der ältere Bruder, der die Verkaufsbemühungen des Kleinen aus der sicheren Entfernung der anderen Straßenseite zu bewachen scheint.
Kleine Geste der Nächstenliebe
Ein älterer Herr steht vor der Theke mit allerlei Leckereien. Croissants, Petits Fours, Tartelettes – das Café rühmt sich schließlich damit, französisch zu sein. Und das mitten in einer kleinen Stadt in der mexikanischen Hochwüste.
Der Herr nimmt seinen Sombrero ab und beugt sich zu dem kleinen Jungen herunter. Gemeinsam betrachten sie die Auslage. „Welches möchtest Du?“ „Das dort“, sagt der kleine Junge und deutet auf die Quiche. „Eines?“ fragt der Herr. „Warte“, sagt der kleine Junge und rennt hinüber auf die andere Straßenseite, spricht mit seinem Bruder und eilt zurück. „Zwei“ sagt er und schaut den Mann mit festem, klarem Blick an. „Okay“ sagt der Mann.
Endlich ist der ältere Herr, der inzwischen seinen breitkrempigen Hut wieder aufgesetzt hat, an der Reihe und gibt eine lange Bestellung auf, nicht ohne die zwei Quiches zu vergessen. „Soll ich sie aufwärmen?“ fragt die Dame hinter der Theke. „Bitte“ entgegnet der Mann. Wenig später reicht die Dame ihm eine Pappschachtel mit 2 dampfenden Quiches herüber. Der Mann nimmt sorgfältig zwei Papierservietten aus einem Ständer und drapiert sie umständlich auf der Schachtel.
Ein Moment des Kinderlachens
Mit großen, hungrigen Augen schaut der Junge zu dem Mann auf. Der Herr nimmt die Schachtel mit beiden Händen und bückt sich herunter zu dem Kind. So ganz leicht scheint ihm das nicht zu fallen, in seinem Alter. Der kleine Junge und der alte Mann sind jetzt auf Augenhöhe. Der Junge legt das Holzeselchen auf die Pappschachtel und dann umfassen seine kleinen Kinderhände die Schachtel mit festem Griff.
„Danke, Señor“, sagt er, und für einen Moment erhellt ein Lächeln das Kindergesicht. Ein Gesichtchen, das keine Unbeschwertheit kennt. Das Gesicht eines Kindes, das keine Kindheit hat.