Der Alltag hat mich fest im Griff. Mit seinen kleinen und großen Herausforderungen, um die meine Gedanken kreisen. Mal linksherum, mal rechtsherum. Ich werfe eine Gedankenschlinge wie ein Lasso um die Probleme des täglichen Lebens. Immer enger ziehe ich die Schlinge zusammen, bis ich meine Probleme erstickt habe – und mich fast mit.
Wer kennt es nicht. Alles dreht sich. Um brennende Fragen im Beruf, im privaten Umfeld, Sorgen über die Zukunft, Unsicherheit. Alles dreht sich um uns selbst. Als wenn wir der Nabel der Welt wären.
Ich muss raus hier und fahre das Auto aus der Garage. Auch hier Kreisverkehr und die Frage, wer Vorfahrt hat. Von allen Seiten tönt es ich, ich, ich. Ich bin der erste, ich bin der beste, ich bin der wichtigste.
Inzwischen habe ich die Stadt hinter mir gelassen. Vor mir liegt die Alpenkette. Majestätisch und mächtig. Die Sonne scheint, der Himmel ist tiefblau. Kaiserwetter eben. Nur hier und da hat sich eine Wolke am Himmel verirrt, wie ein Schäfchen, blitzblank herausgeputzt in seinem schönsten, weißen Wollkleidchen.
Unten im Tal sind die Wiesen sattgrün und die gelben Löwenzähne versuchen ihr bestes, dem Sonnenschein Konkurrenz zu machen. Einfach kitschig schön, wie auf einer Postkarte. Ich halte an, steige aus dem Auto und sauge die Schönheit der Natur in mir auf. Mit mir steigen die ersten Probleme aus. Ich nehme sie auf der Weiterfahrt nicht mehr mit.
Die Fahrt führt durch das Tal, entlang des Flusses. Die Berge haben eine magische, ja fast magnetische Anziehungskraft, und endlich kann ich auf die Straße abbiegen, die mich nach oben bringen wird. 18% Steigung und mein Auto kommt ins Keuchen. Auf halber Höhe lasse ich es stehen, denn ab hier geht es zu Fuß weiter.
Der Waldboden federt unter meinen Schritten und die hohen Bäume rauschen, als wollten sie mir eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte, die tief in der Erde wurzelt, wie die Bäume selbst. Eine Geschichte von Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Von Vergänglichkeit und Wiederaufblühen.
Je weiter ich nach oben komme, desto lichter wird der Wald. Schließlich finde ich mich auf einer Almwiese wieder, inmitten von glücklichen Kühen, die sich durch nichts davon ablenken lassen, in der Sonne zu liegen und gelassen vor sich hin zu kauen.
Es geht weiter auf einem abenteuerlich schmalen Grat. Links geht es steil herunter, und rechts mindestens ebenso. Ganz schwindelfrei bin ich nicht, und so konzentriere ich meinen Blick auf den ausgetretenen Pfad und setze meine Schritte mit Bedacht. Vom Gipfelkreuz trennen mich jetzt nur noch ein paar hundert Meter, vertikal wie horizontal. Vor mir liegt ein steiler, steiniger Aufstieg.
Außer Atem – ja, ich sollte mal wieder was für meine Kondition tun – erreiche ich endlich den Berggipfel. Das Gipfelkreuz glänzt im Sonnenlicht, die Luft ist wunderbar frisch. Ich atme tief durch, so tief ich kann, denn der Blick raubt mir schier den Atem.
Grandios, archaisch. Alpen so weit der Blick reicht. Die mächtigen Berge scheinen mit ihren schneebedeckten Gipfeln den Himmel zu kitzeln und die Sonne zum Lachen zu bringen. Die Weite ist überwältigend. Fast meine ich zu sehen die Rundung der Erdkugel zu sehen.
Und ganz unten im Tal liegt die Stadt mit ihren Häusern, die von hier oben wie Bauklötze aussehen. Ein Zug schlängelt sich wie ein kleiner Wurm entlang des Flusses, der wie ein feines Silberkettchen funkelt. Auf den Straßen fahren Miniatur-Spielzeugautos. Und in jedem der kleinen Autos sitzt mindestens ein Mensch, klein wie eine Ameise, und seine Gedanken drehen sich um Probleme. Die aus dieser Perspektive so klitzeklein und verschwindend erscheinen. Genauso wie meine eigenen Herausforderungen, mit denen ich mich tagein, tagaus beschäftige. Wie unbedeutend bin ich kleiner Mensch doch in diesem großen Ganzen.
Es befällt mich ein Gefühl unendlicher Dankbarkeit und der Demut. In dem Wort Demut steckt auch ganz viel Mut, den ich mit mir nehme, wenn ich wieder hinab da unten in die Welt steige. Denn ich war dem Himmel ganz nah.